Vielleicht kennst du folgendes Szenario:
Du kommst zu deinem Lehrer in den Klavierunterricht. Du bist gut vorbereitet, da du in der letzten Woche ganz gut üben konntest. Zu Hause hat auch alles wunderbar geklappt. Das Stück lief super durch und warst einigermaßen zufrieden.
Jetzt kommst du in deinen Klavierunterricht und setzt dich ans Instrument. Du merkst schon, dass du nervös wirst. Deine Finger werden immer zittriger. Du fängst an.
Ab jetzt ist es nur noch ein Holpern und Stolpern durch das Stück. Die Griffe sind dir entfallen und du musst bei Stellen unterbrechen, die sonst immer geklappt haben. Du kommst dir vor, wie jemand, der erst zwei Stunden Klavier hatte.
Ich kenne das und finde das Phänomen sogar recht interessant. Es ist aber recht einfach zu erklären.
Das Instrument ist ein wesentlicher Faktor
Gitarristen haben immer das eigene Instrument dabei. Sie müssen sich „nur“ auf die neue Situation einstellen. Wir Pianisten haben es da etwas schwerer. Das Instrument, welches natürlich maßgeblich für den „Wohlfühlfaktor“ verantwortlich ist, ist völlig anders. Du bist dein e-Piano, Klavier oder Flügel gewohnt. Jetzt musst du auf einem fast komplett fremden Instrument dein Stück vortragen. Die Tasten fühlen sich anders an, der Klang ist anders und das Pedal reagiert auch verschieden.
Die Situation ist auch ein Faktor
Zu Hause hat man selten jemand, der zuhört. Oder noch schlimmer, einem auf die Finger schaut!
Man ist meistens alleine und kann Sachen ausprobieren und üben. Man stört niemand und kann auch mal richtig schiefe Töne spielen.
Jetzt ist da der Lehrer, der neben dran sitzt. Ein Mensch, der (im besten Falle) auch noch was vom Klavierspielen versteht. Und jetzt möchte man sein Stück gut vortragen.
Der eigene Anspruch
Dann gibt es da noch den eigenen Anspruch. Man hat ja gut geübt. Nun möchte man auch die Lorbeeren ernten und das Stück, so wie man es kann, vortragen. Man möchte sich selbst und dem Lehrer zeigen, dass man was getan hat und vorangekommen ist. Und jetzt klappt nichts mehr.
Meine Sicht als Lehrer
Und jetzt sage ich dir mal, wie ich als Lehrer das Ganze sehe.
Ich kenne beide Seiten sehr gut. Vor ein paar Monaten habe ich eine Stunde bei meinem alten Klavierlehrer genommen. Ich saß nun auf dem anderen Stuhl. Nicht dem Stuhl, der neben dem Klavier steht — sondern dem, der vor den Tasten steht.
Was soll ich sagen? Es ging mir genau so!
Für die einfachsten Fragen musste ich verhältnismäßig viel Nachdenken. Ich konnte gar nichts von meiner Musikalität zeigen. Zumindest fühlte es sich so an. Es hat geholpert und geruckelt. Ich bin sofort wieder in die „Schüler-Rolle“ zurückgefallen.
Aber das ist völlig in Ordnung!
Der Lehrer weiß, dass es Zuhause besser klappt. Man kann sich den Fortschritt des Schülers sehr gut vorstellen, auch wenn das Stück im Unterricht nicht geklappt hat.
Alle Profi-Pianisten spielen sich vor Auftritten ein. Du erwartest von dir, dass du in das Zimmer kommst und das perfekte Konzert hinlegst. Als Lehrer weiß ich das und würde es nie von meinen Schülern erwarten.
Das kann nicht funktionieren. Das Einspielen hilft, sich an zumindest zwei der oben genannten Aspekte zu gewöhnen. Du lernst das Instrument kennen. Wie reagiert es? Wie fühlt sich die Klaviatur an?
Du lernst aber auch die Situation kennen. Du gewöhnst dich an den Raum, die Lichtverhältnisse und vielleicht die Personen im Raum. Das alles sind Faktoren die einen zunächst verunsichern.
Was kannst du heute mitnehmen?
Akzeptiere, dass dein Spiel in einer Unterrichtssituation meistens schlechter sein wird, als Zuhause.
Einspielen hilft! Wähle ein Stück, dass du gut kennst. Es muss nicht das Übestück sein.
Noch ein Hinweis
Selbstverständlich kannst du die Situation etwas verbessern, indem ganz oft Vorspiel-Situtationen übst. Oder du beschäftigst duch mit progressiver Muskelentspannung oder autogenem Training. Dadurch wird das Lampenfieber beim Vorspielen auch weniger. Ich werde hier in meinem Blog sicherlich noch einen Artikel über "Lampenfieber" schreiben.